Begegnung in Trance – Hypnose berührt

von Dipl.-Psych. Jürgen Abresch, Grünberg-Institut für effiziente Akut- und Kurzzeitpsychotherapie
Erschienen in „SUGGESTIONEN“, Organ der Deutschen Gesellschaft für Hypnose und Hypnotherapie e. V. (DGH), Ausgabe 2023, Seiten 36 und 37, www.hypnose-dgh.de

„Begegnung in Trance – Hypnose berührt“ lautet das Motto für unseren dgh-Kongress 2023 in Bad Lippspringe. Sehr schön – dachte ich zunächst. Und dann – eine doch reichlich waghalsige Formulierung?

In einem kurzen Bericht über den Erickson-Kongress im Dezember 1980 in Phoenix/Arizona – Milton H.Erickson war im März 1980 im Alter von 79 Jahren verstorben – berichtete ein Teilnehmer1 über den vermutlich dritten Teil der Begrüßungszeremonie durch Jay Haley (den der Autor als den reifsten „Sohn“ Ericksons bezeichnete): „Sehr bewegend war für uns, und wohl auch für die übrigen 1997 Anwesenden, als Haley in seiner Begrüßungsansprache sagte, er hätte ein paar Jahre früher so einen Kongreß organisieren sollen, damit Erickson hätte dabei sein können, und auch Gregory Bateson. „Aber jetzt werden diese beiden Männer niemals mehr bei einem Treffen dabei sein“ – Haley weinte. „Sein Tod ist wirklich ein persönlicher, denn er hat unser Leben bereichert.“ Das Tabu des Kongresses war gebrochen, das Faktum des Todes benannt.“

Vermutlich wird nicht nur Jay Haley „berührt“ gewesen sein, Tränen vergossen haben, sondern auch zahlreiche Mitmenschen aus dem Auditorium. Angeregt sowohl durch „Eigenes“ (z.B. andere Verluste, Mitgefühl mit den Verstorbenen, Erinnerung an beglückende Begegnungen mit ihnen, …) als auch in Ko-Respondenz mit den Worten, Gesten, Mimik und Gefühlen des Vortragenden (Spiegelneurone, Quanten, …) in einer ergreifenden und ergriffenen Atmosphäre – in einer mächtigen gemeinsamen Trance – einer „Begegnung in Trance“.
In einem Zustand, in welchem wahr wurde, was von vielen Anwesenden zwar vermutlich schon in Worten und Gedanken die Zeit davor vielfach bewusst hin und her bewegt worden sein wird. Was jedoch erst in dieser verdichteten und aufgeladenen Atmosphäre in seiner Gefühlsmacht aus dem jeweiligen individuellen Unterbewussten, dem Halbbewussten, dem Zurückgedrängten, dem Tabuisierten lebendig, lebend, befreit und leibhaftig erfahrbar werden und sein durfte.
Im Anerkennen des Verlustes erscheint und berührt das Positive, das des Bereichert-Worden-Seins!

Auch wenn in dieser Eröffnungsveranstaltung massive Trance-Effekte stattgefunden haben, unterscheidet sich das, was da abgelaufen ist, doch irgendwie fundamental von einer „normalen“ Hypnositzung – deren üblichen Ablauf ich hier nicht darstellen muss.
Während d. Therapeut*in individuell zugeschnittene oder auch manualisierte Tranceinduktionen in häufig auch sozusagen professioneller Weise vorträgt (also ohne davon „berührt“, „betroffen“ oder „bewegt“ zu sein) sinkt das Gegenüber in eine mehr oder weniger tiefe Trance. Diese zeichnet sich bekanntermaßen durch ein Absinken größerer Teile der elektrischen Hirnaktivität in Alpha- und Theta-Wellenbereichen aus. Die erlebbare „Lebendigkeit“ nimmt sukzessive und massiv ab. Gestik, Mimik und Emotionen reduzieren sich, verblassen regelrecht und über die dadurch bewirkte „Hypofrontalität“2 entsteht ein mehr oder weniger ichloses Sein – meist getragen von einem Zustand des gelösten Wohlbefindens, quasi von Hypnos, unserem sanftmütigen Gott, weggetragen auf seine Trauminsel, um dort von den Göttinnen der Muse, der Ruhe und der Vergessenheit umsorgt zu werden.

Auf beiden Seiten des in dieser Art und Weise praktizierten therapeutischen Settings gibt es also keine wirkliche Spur von Berührtsein – selbst wenn d. Therapeut*in mit in eine (wenn auch deutlich abgeschwächte) sozusagen teilnehmende Trance eingestiegen sein sollte.

Hypnose berührt?

Zu Tränen gerührt war ich z. B. im Alter von ca. 11/12 Jahren anlässlich Winnetous Tod, oder z.B. auch in eigenen therapeutischen Sitzungen bei gleichzeitigem Herausbrechen von Trauer und Glück aus gepanzerten Zuständen. Und auch, wenn ich meinen damals kleinen Kindern Geschichten vorgelesen habe, Janosch zum Beispiel (die mich dann interessiert anschauten nach dem Motto: „was hat der denn gerade, warum bricht die Stimme?“). Es gab auch Zeiten, in denen ich Patient*innen zu ihnen passende Märchen vorgelesen habe – bis das nicht mehr ging, weil mir dabei die Stimme zu versagen drohte. So ist das im Grunde auch heute noch.

Was ist da los? Um was geht es da?

Um Gefühle!

„Gefühle sind aktuelle (im Hier und Jetzt gegebene) ganzheitliche individuelle Erlebnisse des Daseins des Subjektes in einer Lebenssituation (situative „Ich-Zustände“). Aufgenommen sind damit die drei von Revers formulierten Thesen zur Bestimmung von Gefühl: „1. Wir sind es ganz. 2. Wir sind es selbst. 3. Wir sind es existierend.“ … Gefühle stellen unmittelbare (unwillkürliche, unausweichliche) psycho-physische Bewertungen des jeweiligen (situativen) Person-Welt-Bezugs (Empfinden, Wahrnehmen, Bewegung, Denken, Vorstellung, Bedürfnisse, Interesse, Glauben, usw.) dar… Gefühle sind psychophysische ganzheitliche Prozesse … des Erlebens, der physiologischen Aktivität, des leiblichen Ausdrucks, des (symbolischen und manifesten) Verhaltens… Gefühle sind erlebnismäßig durch „Nichtgleichgültigkeit“ gekennzeichnet… Dem Erleben von Gefühlen eignet „Widerfahrnis“-Qualität (sie werden als nicht willkürlich erlebt). Das Subjekt erfährt sich in ihnen passiv…“3

Um welche Gefühle es dabei gehen könnte haben Psychologen der Universitäten Ulm und Sussex an Hand von Online-Befragungen zu erforschen versucht:
Sie „teilen … die menschlichen Tränenflüsse in fünf Kategorien ein: Einsamkeit, Machtlosigkeit, Überforderung, Harmonie und Medienkonsum. Der Einteilung … liegt die Überlegung zugrunde, dass emotionale Tränen immer dann auftreten, wenn psychologische Grundbedürfnisse entweder nicht erfüllt oder aber sehr intensiv befriedigt würden. … So verweisen die Psychologen darauf, dass Einsamkeit durch ein nicht erfülltes Bedürfnis nach Nähe zustande kommt – und so zu Tränen führen könne. Zu dieser Kategorie zählen auch Tränen aufgrund von Liebeskummer oder Heimweh. Freudentränen dagegen treten … nach der intensiven Befriedigung des Bedürfnisses nach Harmonie auf. Als Beispiel für Tränen aufgrund von Machtlosigkeit nennen sie etwa die Reaktion auf eine Todesnachricht.“4

Von Hypnos umfangen und auf seiner Insel von Göttinnen und Musen umsorgt kann, wenn es gut läuft, den Gefühlen von körperlichen wie seelischen Schmerzen, die an ein erlebensstarkes Ich gebunden sind, in dem angestrebten „ichlosen“ Zustand eine Linderung oder gar eine Art Heilung widerfahren. Dies letztlich, weil über eine massive parasympathisch-vagale Aktivierung schmerzhafte Gefühlszustände sowie auch negativ erlebbare „körperliche“ Sensationen uns nicht mehr ängstigen, bedrohen oder gefährden können. Diese sind nicht mehr erlebensfähig und die an sie gebundenen und/oder aus ihnen entstandenen sowie archivierten Erfahrungen und Scripte können mit Ruhe und Wohlgefühl überlagert, eventuell sogar umgeschrieben und sodann erneut archiviert werden.

„Begegnung in Trance – Hypnose berührt“?!?

Das alles berührt aber nicht – im wie oben angedeuteten gewählten und vermutlich am meisten praktizierten hypnotherapeutischen Vorgehen.
Weder die Patient*innen noch die Therapeut*innen sind im ablaufenden Prozess berührt oder gar ergriffen! Dennoch kann es zu einem Berührt-Sein, zu einem tiefen, lebendigen Berührt-Werden und -Sein, kommen. Meiner Beobachtung nach dann, wenn die Trance fraktioniert wird. Dies kann durch Interventionen d. Therapeut*in geschehen (z.B. unerwartete Berührungen, durch deutlicher auf das Bewusste, auf den präfrontalen Cortex hinzu ziehen wollende Ansprache, durch eine grundsätzlich die Tiefe der Trance reduzierende dialogisch angelegte Gesprächs- und damit Selbsterlebensführung, …). Aber wohl auch durch ein derart grundlegend ergreifendes Erleben von emotionalen Durchbrüchen, Seins-Veränderungen, emotionalen Erkenntnissen, leiblichen Lösungen – solcher Art, dass sich situativ die Ganzheit von Emotion, Kognition und körperlichem Sein gegen die Trance quasi durchsetzt, die „tranceverordnete“ Spaltung oder Trennung für einen extrem bedeutsamen Moment, einen Moment des Heiler-Werdens, des Heiler Geworden-Seins, durchsetzt.

„Begegnung in Trance – Hypnose berührt“

Was ist Begegnung? Ist es Kontakt (shake hands)?
Ist es Begegnung? Eine Ebene, auf der Intersubjektivität entsteht, ein intensiveres Erleben und auch partielles Verstehen des*der Anderen, ein gemeinsames Schwingen, ein des*der Anderen „Innewerdens“ welches auch in uns selbst Wirkung zeigt?
Ist es Beziehung? Eine Begegnung mit einer noch höheren Begegnungstiefe – und dies über einen längeren Zeitraum, in welchem dann aus einer Beziehung auch eine Bindung werden kann?
Oder ist es – zumal in möglicherweise gemeinsamer Trance (Begegnung in Trance) – eine Art symbiotischer Zustand, eine Konfluenz, ein Zustand aufgelöster Grenzen bis hin zu quasi ozeanischen Gefühlen der Allverbundenheit (wie fast in der eingangs geschilderten Kongresstrance)?

Je nachdem.
Wir haben einen Beruf, in dem wir berührt und ergriffen werden – wenn wir es zulassen – von Schmerz ebenso wie von Glück, von erfüllter wie von vergeblicher Sehnsucht, von Todessehnsucht wie von Lebensfreude. Berührt-SEIN entsteht, wenn Gefühle und Sehnsüchte aus den Verliesen der in der Kindheit entwickelten und fast immer unbewussten Abwehr- und Lebensbewältigungsmechanismen entkommen, lebendig, leibhaftig, wahr werden. Sich Sehnsüchte erfüllen – und sei es auch nur metaphorisch oder in der Teilhabe als Zeug*in. Das „Schlimme“ macht hart, das „Gute“ weich, es berührt im eigentlichen Sinn.
Ich bin nahezu jede Woche und oft mehrfach zu Tränen oder Anmutungen davon gerührt – oft nicht in den „Sitzungen“ selbst, sondern danach: wenn die Patient*innen – oft unter Tränen, solchen der Erleichterung und Freude – davon berichten, dass Ängste, Sorgen und Schmerzen viel kleiner geworden sind, dass das Leben wieder leichter gelebt werden kann.

In diesem Sinne ist es nun doch wirklich – und das sogar doppelt – wahr: „Hypnose berührt“!5

Fußnoten:

  1. Thies Stahl, „Der Erickson-Kongreß: Ein subjektiver Bericht“, Integrative Therapie 1/1981, S.81, Junfermann-Verlag Paderborn, 1981
  2. Dirk Revenstorf, „Wie heilt Hypnose – Veränderung im Ichlosen Zustand“, Suggestionen 2014, S. 34Ff, dgh, Coesfeld 2014
  3. Ernst H. Bottenberg, „Neuer Umgang mit Gefühlen“, Integrative Therapie Jg. 17/ 4/1991, S. 403ff, Junfernann-Verlag, Paderborn 1991
  4. Pressemitteilung der Universität Ulm: „Was bringt uns zum Weinen? Fünf Gründe für emotionale Tränen identifiziert“, 15.08.2022, Untersuchung von M.Barthelmäs, R.Kesberg, A.Hermann et al.; Quelle: www.coliquio.de/wissen
  5. Siehe auch: Peter Eisler, „Berühren und Berührtsein“ in der Integrativen Therapie, Integrative Therapie, 17.Jg., 1-2 1991, S.85 ff, Junfermann-Verlag, Paderborn 1971; sowie Jürgen Abresch, „Über das Berührt-Sein – Annäherungen an einen psychosomatischen Erlebensweg des Heiler-Werdens“, in: A.F.E.intern – Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft für Funktionelle Entspannung, Heft 26, S. 67Ff, Erlangen 1998; sowie Fallbeispiele unter www.gruenberg-institut.de